“65 Zeugen hatten keine Erinnerung an Ulvi K.”
Im Fall der seit zwölf Jahren vermissten Peggy K. ist der Falsche verurteilt worden, glaubt Buchautorin Ina Jung. Im Gespräch erklärt sie, warum der geistig behinderte Ulvi K. nicht der Täter sei.
Von Lars-Marten Nagel
Die Spannung im Kriminalfall um die vermisste Peggy K. aus dem fränkischen Ort Lichtenberg ist zurzeit so hoch wie lange nicht mehr. In der vergangenen Woche suchte die Polizei wieder und grub ein Grundstück um. Sie fand Knochenreste. Bislang ist aber völlig offen, ob es sich dabei um menschliche oder tierische Knochen handelt. Ob es der Leichnam von Peggy K. ist oder Reste eines mittelalterlichen Friedhofs, der an der Stelle in Lichtenberg früher war.
Die neuen Ermittlungen sind die jüngste Wende in dem spektakulären Kriminalfall, der die Region seit mehr als zwölf Jahren in Atem hält. Das neunjährige Mädchen Peggy K. verschwand damals spurlos. Die Polizei fand keine Leiche, keine Spuren, weder Tatwaffe noch Tatzeugen. Der geistig behinderte Ulvi K. gestand nach langen Verhören den Mord und widerrief später sein Geständnis. Trotzdem wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis heute gibt es Zweifel an seiner Schuld. Sein Anwalt reichte vor drei Wochen einen Antrag beim Landgericht Bayreuth ein, mit dem er das Verfahren neu aufrollen lassen will.
Das Drama um Peggy K. und Ulvi K. lässt sich kaum in wenigen Worten zusammenfassen. Und so trifft es sich, dass nun ein bemerkenswert gut recherchiertes Buch erschienen ist. “Der Fall Peggy. Die Geschichte eines Skandals” von den bayerischen Journalisten Ina Jung und Christoph Lemmer ist die erste umfassende Darstellung der Ereignisse und eine Pflichtlektüre für alle, die sich jenseits von Skandalisierung und Hysterie über die Fakten informieren wollen.
Im Gespräch mit Lars-Marten Nagel erklärt Ina Jung, warum der geistig behinderte Ulvi K. nicht der Täter sein kann, wie die Polizei ihn trotzdem überführte und warum die bayerische Justiz häufig Fehlurteile fällt.
Die Welt: Ist der Knochenfund die entscheidende Wende im Fall Peggy?
Ina Jung: Ich kann es überhaupt nicht einschätzen, ob die Knochen Peggy zuzuordnen sind. Wir müssten abwarten, was bei den Untersuchungen herauskommt. Eine Wende ist es trotzdem, denn der neue Staatsanwalt scheint die Suche nach dem Opfer fortsetzen zu wollen. In der Vergangenheit schien die bayrische Justiz daran kein großes Interesse zu haben.
Die Welt: Weil ein Fund der Leiche den verurteilten Mörder Ulvi K. entlasten könnte und die Justiz blamieren würde?
Jung: Ich bin davon überzeugt, dass Ulvi zu Unrecht verurteilt wurde. Das Urteil ist ein Skandal, wenn man sich die Fakten anschaut. Allerdings würde ein Leichenfund ihn nicht zwingend rehabilitieren, betont der Staatsanwalt. Ulvi oder seine Familie könnten die Leiche dort vergraben haben. Damals war dieser Hof ein öffentlich zugänglicher Raum. Außerdem soll die Suchaktion angeblich in keinem Zusammenhang mit dem beantragten Wiederaufnahmeverfahren steht. Offenbar haben Medienberichte im Juli 2012 die Ermittlungen ausgelöst.
Die Welt: Warum sind Sie sich so sicher, dass Ulvi K. nicht der Mörder ist?
Jung: Er kann sie nicht ermordet haben. Ulvi soll damals auf einer Parkbank auf Peggy gewartet haben. Das behauptete eine Zeugin ein Jahr nach dem Verschwinden von Peggy. Ihr Sohn war selbst kurz als Beschuldigter geführt worden. Die Polizei glaubte der Frau, ohne zu hinterfragen, ob sie ihr eigenes Kind entlasten will. In der Nähe der Parkbank hatte aber eine Firma Schichtwechsel. 65 Zeugen, die dort vorbeikamen, konnten sich nicht an Ulvi erinnern.
Die Welt: Gut, aber was ist, wenn Ulvi und Peggy sich doch getroffen haben?
Jung: Die Polizei hat ein Zeitfenster zwischen 13.15 und 13.45 Uhr für den Mord festgelegt. Das lässt sich widerlegen. Zum Beispiel dadurch, dass mehrere Zeugen Peggy noch am Nachmittag gesehen haben. Jenseits dieses fiktiven Tatzeitpunkts hat Ulvi ein Alibi. Die Polizei hat den Belastungszeugen Glauben geschenkt und die Entlastungszeugen als unglaubwürdig deklariert oder sogar unter Druck gesetzt, ihre Aussage zu ändern.
Die Welt: Welcher Zeuge hat Ulvi besonders belastet?
Jung: Ein wichtiger Belastungszeuge war Peter H., ein verurteilter Betrüger und Polizei-V-Mann, der Ulvi in der Forensischen Psychiatrie begegnete. Dieser Kleinkriminelle erhoffte sich die frühzeitige Entlassung, wenn er Ulvi belastete. Deshalb behauptete er gegenüber der Polizei, Ulvi hätte ihm den Mord gestanden. 2010 hat er seine Aussage plötzlich widerrufen. Seitdem beschuldigt er die Polizei, ihm seine Aussage in den Mund gelegt zu haben.
Die Welt: Werfen Sie den Ermittlern Schlamperei oder Manipulation vor?
Jung: Ich recherchiere den Kriminalfall seit 2006 und Manipulationen finden sich überall. Man muss sich auch den politischen Druck vorstellen. Damals äußerte sich Innenminister Beckstein unzufrieden darüber, dass kein Täter gefunden wurde. Er berief einen neuen Chef für die Sonderkommission. Der hat sich auf Ulvi als Täter festgelegt. Einige Ermittler haben bewusst diese Richtung verfolgt. Sie waren es, die Zeugen unter Druck gesetzt haben.
Die Welt: Können Sie ein Beispiel für die Manipulationen nennen?
Jung: Zwei Schüler wollten Peggy noch am Nachmittag lebend gesehen haben. Sie sagten aus, das Mädchen sei in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen eingestiegen. Das hätte Ulvi entlastet, also bekamen die Jungen einzeln noch einmal Besuch von der Polizei. Die Beamten sagten ihnen, der jeweils andere hätte eingeräumt, sich das Ganze nur ausgedacht zu haben. Die beiden kleinen Jungen bekamen Angst und zogen ihre Aussagen zurück. Mein Co-Autor Christoph Lemmer und ich haben sie gefunden. Heute sind die beiden junge Männer und stehen zu ihrer ursprünglichen Aussage. Auch andere Zeugen erinnern sich, wie die Polizisten sie angeschrien oder unter Druck gesetzt haben.
Die Welt: Ulvi K. hat sich nachweislich vor Kindern entblößt und masturbiert. Die Polizei war überzeugt, er habe Peggy vergewaltigt. Das wäre ein starkes Mord-Motiv?
Jung: Der Ulvi tickt wegen der geistigen Behinderung anders. Er ist ein sehr großer, kräftig gebauter Typ, mit dem Wesen eines Zehnjährigen. Er konnte damals sein Geschlechtsverhalten nicht steuern. Ich will das nicht entschuldigen, die Familie hat sich selbst um eine Therapie gekümmert. Kinder haben ihn geneckt, andere Dorfbewohner haben ihn provoziert. Nach dem Motto: Ich kaufe Dir ein Bier, wenn Du ihn rausholst. Ulvi ist nie als gewalttätig aufgefallen. Das wissen die Lichtenberger, deswegen stehen sie ja zu ihm. Normalerweise haben Triebtäter keine Freunde in der Bevölkerung.
Die Welt: Und die Vergewaltigung?
Jung: Die hat Ulvi gestanden. Beziehungsweise, sie wurde ihm von Beamten in den Mund gelegt. Er lamentiert und erzählt viel, wenn er dafür Aufmerksamkeit bekommt. Das muss nicht alles stimmen. Peggy war am Tag der angeblichen Vergewaltigung durch diesen 100 Kilo schweren Mann noch beim Turnen. Das scheint mir doch reichlich unwahrscheinlich.
Die Welt: Warum hat er dann gestanden?
Jung: Vom Geständnis gibt es kein Tonband, nur ein Gedächtnisprotokoll. Das ist merkwürdig. Auch der Anwalt war nicht dabei. Außerdem haben ihn Beamte kurz zuvor unter Druck gesetzt und etwas Falsches behauptet, nämlich das Blut an seinem Blaumann gefunden wurde. Ein Polizeibeamter aus Lichtenberg, den er als väterlichen Freund akzeptierte, soll ihm sinngemäß gesagt haben: “Sag endlich, dass Du es warst, sonst bist Du nicht mehr mein Freund.” Dann ist Ulvi eingeknickt. Sie haben ihn lange bearbeitet. Etwa 15 Vernehmungen ohne seinen Anwalt, zum Teil sieben Stunden am Tag vernommen. Er hat nur vor Erschöpfung gesagt, ja ich war es. Er wollte seine Ruhe.
Die Welt: Es gibt aber ein Video, in dem Ulvi K. am Tatort sehr überzeugend den Mord schildert. Diese Tathergangs-Rekonstruktion schockte damals im Gerichtssaal. Kann er so gut schauspielern?
Jung: Die Videoaufnahme ist anscheinend verschwunden. Niemand hat sie seither zu sehen bekommen. Auch nicht der Verteidiger von Ulvi. Es ist ein Skandal, wie in diesem Fall wichtige Asservate verschwinden. Eigentlich müsste das Video sogar zeigen, dass der schwere Ulvi Peggy gar nicht hinterher laufen oder sie gar einholen könnte.
Die Welt: Sie sind Drehbuchautorin des Films “Das unsichtbare Mädchen”, für den sie den bayerischen Fernsehpreis bekommen haben. Die Handlung ist an den Peggy-Fall angelehnt. Im Film wird das Kind in ein Bordell hinter der tschechischen Grenze verschleppt. Im Buch taucht dieses Szenario allenfalls am Rand auf. Warum?
Jung: Damals war ich bei den Recherchen noch auf einer anderen Spur. Das war 2010. Mir ging die Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass die Peggy nach Tschechien oder in die Türkei gebracht worden sein könnte. Vielleicht von jemandem, den sie kannte. Vielleicht über die tschechische Grenze in ein Kinder-Bordell. Es gab zahlreiche Hinweise in diese Richtung. Zum Beispiel die Beobachtung der beiden Jungen, der rote Mercedes mit tschechischem Kennzeichen.
Die Welt: Die Polizei hat die Leiche gerade im Hof eines vorbestraften Pädophilen gesucht. Im Buch schreiben Sie, dass es noch einen anderen wichtigen Verdächtigen gibt.
Jung: Das war der Stiefbruder von einem Nachbarn der Peggy. Damals ein Teenager. Er war mehrfach in Lichtenberg und kannte Peggy gut. Sie haben viel Zeit miteinander verbracht. Nach ihrem Verschwinden trug er ein Amulett mit dem Bild des Mädchens. Auf seinem Rechner hatte man kinderpornografische Bilder und Fotos von Peggy – allerdings im angezogenen Zustand – gefunden. Er lebt bei Halle und ist dann später ins Visier der Polizei geraten, als er ein Missbrauchsfoto seiner eigenen Tochter ins Netz stellen wollte. Er ist im Februar zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Die Beziehung dieses Mannes zu Peggy hat die Polizei aber nicht konsequent ermittelt.
Die Welt: Sie reihen den Fall Peggy ein in andere bayerische Justizskandale. Das Fehlurteil im vermeintlichen Mord am Bauern Rupp. Den Fall Gustl Mollath. Warum gibt es so viele fragwürdige Urteile in Bayern?
Jung: In der bayrischen Justiz zählt die Erfolgsquote. Ermittler gehen in Vernehmungen bis an die Grenzen des Erlaubten und im Fall Ulvi sogar darüber hinaus. Außerdem ist es relativ leicht, jemanden für verrückt erklären lassen. Geistig Minderbemittelte eignen sich als Täter. Im Fall des Bauern Rupp war das auch so. Die Familie, ein paar schlichte Gemüter, haben gestanden, ihn getötet und an die Hunde verfüttert zu haben. Fünf Jahre später findet die Polizei die Leiche und stellt fest, dass das alles nicht stimmte. Es gibt noch ein weiteres, strukturelles Problem in der bayerischen Justiz: Richter müssen vorher Staatsanwälte gewesen sein. Ihre Ausbildungen sind eng verwoben. Es gibt geradezu einen kumpelhaften Austausch. Der Richter kann sich deshalb gut in den Staatsanwalt hineinversetzen. Nur der Verteidiger steht in Bayern oft auf verlorenem Posten.
Die Welt: Haben Sie noch Hoffnung, dass Peggy irgendwann wieder lebend auftaucht?
Jung: In dem Fall sind schon viele mysteriöse Dinge passiert. Ich habe die Hoffnung trotzdem nicht mehr, auch wenn man sie eigentlich nicht aufgeben soll. Das Mädchen hat vielleicht noch länger gelebt, als die Polizei behauptet, aber sie ist bestimmt danach zu Tode gekommen. Theoretisch ist vieles denkbar. Vielleicht wird sie irgendwo festgehalten oder ist eine Zwangsadoption vermittelt worden. Und wurde gezwungen, eine andere Identität anzunehmen.