Herr Niemand, das Phantom des deutschen Fernsehens
Manche Geschichten sind so absurd, dass man sie für eine Fiktion halten muss. Diese hier handelt von einem der wichtigsten deutschen Fernsehproduzenten, dessen Sendungen von so vielen Millionen Deutschen gesehen werden, dass fast jeder seine Sendungen kennt oder zumindest ihren Namen schon einmal gehört haben muss. Weil der Produzent dubiose Geschäfte mit einem früheren TV-Macher eines großen Senders gemacht hat, hat ihn ein Leipziger Gericht Anfang des Jahres mit einem Strafbefehl belangt.
Diese Geschichte handelt außerdem von drei Kölner Richterinnen, die mal eben aus diesem Fernsehproduzenten praktisch ein Phantom gemacht haben. Einen Mann ohne Gesicht, Namen und Firma. Nennen wir ihn einfach Herrn Niemand, denn es ist jetzt verboten, seinen tatsächlichen Namen zu nennen. So haben es die Richterinnen beschlossen. Deshalb empfiehlt es sich auch, den Namen des großen Senders nicht mehr zu nennen. Denn sonst könnte man ja leicht herausfinden, wer Herr Niemand wirklich ist.
Die Geschichte fängt so an: Im Juni 2011 wurde der bis dahin sehr einflussreiche Unterhaltungschef des großen Senders suspendiert. Er hatte – freundlich formuliert – sehr freihändig mit Geldzahlungen von Zigtausenden Euro jongliert, Schulden gemacht, Schulden begleichen lassen, alles im Namen seines Senders, aber ohne dessen Wissen. Wir hatten – vor allem in der „Welt“ – wesentlich dazu beigetragen, die Hintergründe und Details dieser Affäre aufzudecken. Als schließlich die Staatsanwaltschaft Leipzig anfing, in der Sache zu ermitteln, hatten fast alle namhaften deutschen Medien über die Affäre berichtet: Spiegel, Süddeutsche Zeitung, FAZ, Bild und viele mehr.
In vielen dieser Berichte tauchte der Name des Fernsehproduzenten Herr Niemand auf. Denn auch Herr Niemand hatte dem Unterhaltungschef Geld gezahlt und man wusste nicht so genau wofür eigentlich. Herr Niemand, der auch Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande ist, wollte es auch nicht erklären, jedenfalls nicht der Presse. Herr Niemand war eigentlich immer im Urlaub oder saß gerade im Flugzeug, wenn man in seinem Büro anrief. Auch auf Mails und SMS reagierte er nicht. Herr Niemand schien sich offenbar nicht weiter daran zu stören, dass sein Name ständig in den Medien war.
Dann gab es eine bundesweite Razzia. Beamte schauten auch bei Herrn Niemand vorbei, der plötzlich Erklärungsbedarf hatte. Sein Firmensprecher räumte ein, dass Ermittler „im Büro sowie in der Wohnung“ von Herrn Niemand waren und „zwei Leitz-Ordner mit Unterlagen zu Geschäftsvorgängen mit dem [im Zitat steht hier das Kürzel des großen Senders, das man aber besser nicht mehr nennt, weil dadurch Herr Niemand identifiziert werden könnte] mitgenommen” hatten. Herr Niemand, dem Bestechungsdelikte vorgeworfen wurden, wolle „vollumfänglich“ kooperieren wolle.
So gingen mehr als zwei Jahre ins Land.
Im Oktober 2013 klagte die Staatsanwaltschaft Leipzig mehrere Männer an, die in die Affäre verstrickt sind. Einer bekam einen Strafbefehl: Herr Niemand, wie sich herausstellte. Darüber haben wir Anfang des Jahres berichtet. Wir haben in unserem Beitrag unter anderem den Sprecher des Amtsgerichts Leipzig zitiert: „Der Strafbefehl gegen Herrn [ab sofort: Niemand] ist am 3. Januar erlassen und seinen Anwälten am 8. Januar zugestellt worden.” Oder den führenden Kopf einer TV-Anstalt: „Der Strafbefehl hat das Spiel verändert. Wird die Entscheidung des Gerichts rechtskräftig, dann ist eine Zusammenarbeit mit Herrn [Niemand] schwierig.“
Der Strafbefehl brachte Herrn Niemand erneut in die Schlagzeilen, viele Medien berichteten: die Nachrichtenagentur dpa, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, taz, Berliner Morgenpost, Bild. Herr Niemand hat den Strafbefehl angefochten, deshalb könnte es bald zu einem Prozess kommen. Das würde bedeuten: wieder Schlagzeilen. Davon hat Herr Niemand jetzt offenbar genug, er schaltete einen Medienanwalt ein. Der ging zum Landgericht Köln und wollte verbieten lassen, dass Herr Niemand mit vollem Namen in den Zeitungen und im Internet steht und mit so unschönen Dingen wie einem Strafbefehl in Verbindung gebracht wird.
Das Landgericht Köln sah das nicht ein. Es entschied, eine rechtswidrige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei durch die identifizierende Berichterstattung nicht gegeben. Es handele sich um eine Berichterstattung über wahre Tatsachen, die im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Produzenten stünden. Und daran habe die Öffentlichkeit ein erhebliches Interesse. Fotos von Herrn Niemand illustrierten ein zeitgeschichtliches Ereignis und dürften gedruckt werden.
Das wiederum sah Herrn Niemands Medienanwalt nicht ein. Er ging zum Oberlandesgericht Köln und trug sein Anliegen nun den drei Richterinnen vor. Die hatten ein Einsehen mit dem armen Herrn Niemand und seinem armen Medienanwalt. Deshalb darf Herr Niemand jetzt nicht mehr mit seinem richtigen Namen in den Medien auftauchen und Fotos von ihm dürfen nicht mehr veröffentlicht werden. Die Presse darf auch keine Details nennen, mit denen Herr Niemand identifiziert werden könnte. Nicht den Namen seiner Firma, obwohl die sich allerlei Tricks einfallen ließ, damit Herr Niemand rein formal nicht mehr die Geschäfte führt. Und es ist besser, auch seine Auftraggeber nicht namentlich zu nennen. Wenn man Herrn Niemand deshalb identifizieren könnte, würde das bis zu 250.000 Euro kosten.
Das ist, als hätte man in der Berichterstattung über die hinterzogenen Steuern des ehemaligen Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß weder seinen Namen noch seinen Verein noch die Tatsache erwähnen dürfen, dass dieser Verein Deutscher Meister ist und die Champions League gewonnen hat. Denn dann könnte man ja ganz leicht darauf kommen, dass der (inzwischen: Ex-) Präsident in Wirklichkeit Herr Hoeneß ist. Jedenfalls hätten Medien solange nicht identifizierend berichten dürfen, bis das Urteil rechtskräftig wurde.
Doch das beirrte die drei Richterinnen nicht. Es beirrte sie auch nicht, dass es an den berichteten Tatsachen gar keinen Zweifel gibt. Herr Niemand behauptet nämlich nicht, dass irgendetwas an unserer Berichterstattung nicht stimme. Es ist nur so, dass er seine Verfehlung plötzlich wie eine Privatsache behandelt wissen will. Ausgerechnet jetzt, da es den Strafbefehl gibt. Die drei Richterinnen des Kölner Oberlandesgerichts finden das in Ordnung. Sie haben beschlossen, dass solche Veröffentlichungen Herrn Niemand in seiner Sozialsphäre betreffen. Die sei wichtiger als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit.
Deshalb darf Herr Niemand nun ein Anonymus sein, unbehelligt Fernsehsendungen machen, übrigens auf Kosten der Gebührenzahler. Die erfreulichen kleinen Geschichten über Herrn Niemand dürfen weiterhin erzählt und gezeigt werden, natürlich auch mit Fotos von Herrn Niemand und seinem richtigen Namen. Und natürlich darf man dann auch den Namen seiner Firma nennen. Die weniger schönen Geschichten darf man nicht erwähnen. Wer über sie berichten will, muss Namen und Fernsehsender und Orte verfremden bis zur Unkenntlichkeit. Bis man kaum noch weiß, ob diese Geschichte in Deutschland spielt oder in Absurdistan, heute oder vor langer, langer Zeit.
Fortsetzung folgt, auch an dieser Stelle.